Außerordentliche Sportministerkonferenz am 07./08. April 2022
BV01/2022 vom 07. April 2022
„Hamburger Erklärung“
Seit über 100 Jahren leistet der Sport erhebliche Beiträge zum Gemeinwohl und wird deshalb seit vielen Jahrzehnten staatlich gefördert. Seit einigen Jahren unter den aktuellen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verbinden sich mit dem Sport weitreichende zusätzliche Chancen, unsere Entwicklung als Gesellschaft entscheidend positiv zu beeinflussen und zur Bewältigung großer gesellschaftlicher Herausforderungen beizutragen.
In einer Zeit zunehmender Polarisierung und gegenseitiger Abgrenzung schafft Sport Annäherung und Zusammenhalt.
In einer Zeit zunehmender gesellschaftlicher Fragmentierung, hoher Diversität und Heterogenität überwindet Sport Unterschiede und Vorbehalte, fördert Gemeinsamkeit, Teilhabe, Verständnis und Respekt.
In einer Zeit, in der Intoleranz, Diskriminierung, Ausgrenzung und Hass sich verbreiten, erzeugt Sport Toleranz und Solidarität.
In einer Zeit großer Umbrüche, Verunsicherung und gesellschaftlicher Fragilität schafft Sport Zugehörigkeit, Orientierung und soziale Stabilität.
In einer Zeit nachlassender Bindungskraft großer gesellschaftlicher Institutionen erreicht Sport große Teile der Bevölkerung, schafft Identifikation und Verbundenheit mit dem Gemeinwesen und der Demokratie.
In einer Zeit starker gesellschaftlicher Stressfaktoren und hoher arbeits- und lebensalltäglicher Belastungen schafft Sport Ausgleich, Resilienz und Lebensqualität.
In einer Zeit zunehmender Bewegungsarmut, eines – auch als Folge der Corona-Pandemie – durch Homeoffice zunehmenden bewegungsfeindlicheren Arbeitsalltags und damit verbunden steigenden gesundheitlichen Risiken stärken Sport und Bewegung die individuelle Fitness, Gesundheit, physische und mentale Abwehrkraft und Mobilität gerade älterer Menschen.
Und nach einer Zeit, in der die Bewältigung der Pandemie uns soziale Isolierung und Distanz abverlangt hat, schafft Sport Nähe, Begegnung und Gemeinschaftserlebnis.
Mehrfach hat der Sport in jüngerer Vergangenheit seine Mobilisierungs-, Bindungs- und Integrationskraft unter Beweis gestellt. 2006 hat das Sommermärchen der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland die Menschen begeistert, zusammengeführt, stolz gemacht und zu einer hohen Identifikation mit unserem Land und unserer Gesellschaft beigetragen. In den Jahren 2015 und 2016, als Geflüchtete in hoher Zahl in Deutschland ankamen, haben gerade die Sportvereine aus dem Stand unbürokratische und wirkungsvolle aktive Integration geleistet, von der zuvor viel gesprochen wurde.
Integration durch Sport wurde in bisher unbekannter Intensität greifbar und sichtbar. Auch für viele der jetzt ankommenden Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine können Sportvereine zu Orten werden, die schnell und wirkungsvoll Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit vermitteln.
In zwei Jahren haben wir mit der UEFA EURO 2024 in Deutschland die Chance, als freie offene Gesellschaft Menschen aus zahlreichen Ländern willkommen zu heißen, über Sport, Begegnung und Verbindungen zu schaffen und als Land zusammenzurücken.
Sport stärkt damit auch die Abwehrkräfte, die Resilienz unserer Gesellschaft gegenüber sozialer Destabilisierung, Polarisierung, Menschenfeindlichkeit und Demokratieverachtung.
Um seine gesellschaftliche Kraft bestmöglich entfalten zu können, braucht der Sport politische Wahrnehmung und Förderung auf allen Ebenen. Zwei Jahre Pandemie haben dem Sport schwer zugesetzt, den Sportbetrieb und das Vereinsleben stark eingeschränkt, zu Mitgliederverlusten geführt und Bindungen und Motivation bei Sporttreibenden wie Ehrenamtlichen geschwächt. Umso mehr braucht es jetzt einen kraftvollen Aufbruch, um den Sport, die Vereine und die gesellschaftliche Präsenz von Sport und Bewegung schnell wieder zu stärken.
Hierfür braucht der Sport einen seiner gesellschaftlichen Bedeutung entsprechenden politischen Stellenwert. Es bedarf einer umfassenden ressortübergreifenden Sportförderpolitik mit dem Ziel, so vielen Menschen wie möglich leichte, attraktive Zugänge zu Sport und Bewegung zu eröffnen und zur körperlichen Aktivität zu motivieren.
Dabei tragen die Länder und der Bund gemeinsam Verantwortung. Die Länder und Kommunen sind mit der Infrastrukturförderung für den Breitensport, die Förderung des organisierten Sports über die Landessportbünde und der Förderung des Nachwuchsleistungssports sowie großer Sportveranstaltungen die wichtigsten Zuwendungsgeber des Sports in Deutschland. Gleichzeitig hat der Bund in der Förderung des Olympischen und Paralympischen Spitzensports, der ergänzenden Förderung von Sportinfrastrukturprojekten sowie der Arbeit an einer nationalen Strategie für die Durchführung von Sportgroßveranstaltungen in Deutschland sein Engagement in den letzten Jahren kontinuierlich ausgebaut. Bund, Länder und Kommunen haben gemeinsam den Sport in der Pandemie mit finanziellen Hilfen unterstützt. Gleichwohl ist festzustellen, dass eine ressortübergreifende Nutzung, der sozial stabilisierenden und demokratiefördernden Kraft des Sports, und der Fähigkeiten dieser Akteure zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen auf Bundesebene früher nicht systematisch erfolgt ist. Hier gilt es in Zukunft zusätzlich gemeinsame Anstrengungen von Bund und Ländern zu entwickeln. Handlungsgrund wäre in diesem Kontext u. a. die entsprechende Berücksichtigung sportbezogener Vorhaben in der Umsetzungsplanung des deutschen Aufbau- und Resilienzplans (DARP).[1]
Rückgrat jeder Sportförderpolitik ist der Erhalt und Ausbau der Sportstätteninfrastruktur. Wohnortnahe, attraktive und kostenfrei bzw. kostengünstig zugängliche Sportstätten und Bewegungsangebote müssen Teil einer vorausschauenden Stadtplanung und Sozialraumentwicklung sein. Der Erfolg von Stadtentwicklungsprozessen und die Lebensqualität sowohl von Städten als auch von Regionen wird sich in Zukunft auch daran bemessen, inwieweit es gelingt, die Bedarfe des Sports zu berücksichtigen, individuelles Aktivsein zu fördern und das Potenzial des Sports als Integrator, Begegnungsanlass und Gemeinschaftsstifter zu nutzen. Zu einer bewegungsfördernden Stadtplanung gehören dabei nicht nur ausreichende Sporthallen, Sportplätze und Vereinssportanlagen, sondern z. B. auch die aktivierende Gestaltung von öffentlichen Freiräumen und Wegeflächen, „bewegte“ Schulhöfe und Schulgebäude oder auch attraktive Strecken für die individuelle aktive Mobilität.
Unsere rund 88.000 Sportvereine mit ihren etwa 27 Millionen Mitgliedern[2] sind die zentralen Träger des organisierten Sports in Deutschland und Garanten eines flächendeckenden und vielfältigen Sportangebotes. Millionen von Ehrenamtlichen[3], von Übungsleiterinnen und Übungsleitern, Trainerinnen und Trainern sowie Mitgliedern von Vorständen mit ihrer tagtäglichen Arbeit sind die Herzkammer des Sportbetriebs und machen die Vereine zu demokratiefestigenden Orten der Begegnung, des Zusammenhalts, des guten Ankommens und Aufwachsens und für viele Menschen zu einem Stück Heimat. Die Ehrenamtlichen leben eine Kultur des füreinander Einstehens und der Verantwortung für die Gemeinschaft. Nirgendwo entfaltet der Sport seine gesellschaftliche Kraft so stark wie im Verein. Ziel jeder Sportpolitik ist es daher, die Vereine zu stärken und die Rahmenbedingungen für die Vereinsarbeit – auch durch eine verlässliche intentionelle Sportförderung – zu verbessern. Gemeinsam müssen Politik und Sport alle Anstrengungen unternehmen, um mehr Menschen für ein ehrenamtliches Engagement in den Vereinen zu gewinnen.
Die positiven Kräfte des Sports sind umso wirksamer, je mehr Menschen von ihnen erreicht werden. Sport- und Bewegungsangebote können und sollen (im Sinne eines „Sports für alle“) Jede und Jeden zu einem aktiven Lebensstil motivieren und im Sport mit anderen Menschen zusammenführen, unabhängig vom Alter, Geschlecht, sozialen und kulturellen Hintergrund, Hautfarbe oder einer Behinderung.
Sport transportiert elementare Werte unserer Gesellschaft wie Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung, Respekt, Toleranz, Fairness, Solidarität, Teamgeist, Disziplin und das Beachten von Regeln. Damit fördert Sport insbesondere die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen, vermittelt den Umgang mit Sieg und Niederlage und die Fähigkeit des sich Einordnens in ein größeres Ganzes, in ein Team.
Leistungs- und Spitzensport schafft Vorbilder, Motivation, Begeisterung, Identifikation und emotionale Bindung. Der deutsche Leistungssport zeichnet sich durch ein breites Spektrum von Disziplinen aus, deren Spitzenkader so gefördert werden sollen, dass sie in der Weltspitze präsent und konkurrenzfähig sein können. Gleichzeitig muss sich gerade im Spitzen- und Profisport sowie auf Ebene der nationalen und internationalen Sportorganisationen und der großen internationalen Sportwettbewerbe das Wertesystem des Sports auch erlebbar abbilden. Der Sport kann auf gesellschaftliche Entwicklungen positiv einwirken, wenn er selbst gesellschaftliche Veränderungen in seinen Strukturen auch mit vollzieht, sie aktiv gestaltet, die Integrität des Sports wahrt und Missständen und Fehlentwicklungen entgegentritt.
Vor diesem Hintergrund macht es sich die Sportministerkonferenz zur Aufgabe,
1. die große Kraft des Sports zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen und zur Unterstützung einer positiven gesellschaftlichen Entwicklung bestmöglich zu nutzen und hierfür
2. durch eine aktive Sportpolitik und Sportförderpolitik auf Landes- und Bundesebene den Sport zu stärken und insbesondere ein starkes Comeback des Vereinssports nach zwei Jahren Pandemie tatkräftig zu unterstützen,
3. mit einem umfassenden und ressortübergreifenden Verständnis von Sportförderung die gute Entwicklung des Sports zu unterstützen und die Reichweite von Sport- und Bewegungsangeboten zu erhöhen,
4. in enger Abstimmung mit den Partnerinnen und Partnern im organisierten Sport die Rahmenbedingungen für die Arbeit der Vereine und Verbände insbesondere für die Ehrenamtlichkeit im Sport zu verbessern,
5. die UEFA EURO 2024[4] als deutschlandweite Sportgroßveranstaltung mit weltweiter Ausstrahlung zu einem Ereignis zu machen, bei dem die verbindende Kraft des Sports in einer offenen, freien, demokratischen Gesellschaft weithin spürbar und erlebbar ist und ebenso die Special Olympics World Games 2023[5] mit ihrem einzigartigen Host-Town-Konzept dafür zu nutzen, die große inklusive Wirkung des Sports im Rahmen einer internationalen Sportgroßveranstaltung sichtbar zu machen,
6. deutsche Bewerbungen um Sportgroßveranstaltungen wie Olympische Spiele, Welt- und Europameisterschaften zu unterstützen, die wie nur wenige andere Ereignisse ganze Nationen friedlich zusammenbringen und durch die Förderung von Vielfalt, Integration, Teilhabe und Inklusion das gesellschaftliche Miteinander verbessern können.
7. Fehlentwicklungen und Missständen im Sport gemeinsam und mit den Partnerinnen und Partnern im Sport konsequent entgegenzutreten und
8. Gemeinsam und mit den Partnerinnen und Partnern im Sport gesellschaftlichen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken und jede Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit entschlossen zu bekämpfen.
Hamburg, am 7. April 2022
[1] „Der Deutsche Aufbau- und Resilienzplan beinhaltet konkrete Maßnahmen und Investitionspläne in Klimaschutz, Energiewende und neue digitale Technologien, um gestärkt aus der Corona-Krise hervorzugehen. Im Rahmen des Programms ‚Next Generation EU‘ stellt die Europäische Kommission den Mitgliedsstaaten umfangreiche Gelder zur Krisenbewältigung zur Verfügung“ (Quelle: https://www.bundesregierung.de …, letzter Zugriff: 15.04.2021).
[2] Bestandserhebung 2021 (dosb.de)
[3] Der Deutsche Olympische Sportbund (dosb.de)
[4] Die Fußball-Euromeisterschaft 2024 soll als 17. Austragung des Wettbewerbs in Deutschland stattfinden. Vorgesehener Zeitpunkt: Freitag, 14. Juni 2024 – Sonntag, 14. Juli 2024; Spielorte sind: München, Berlin, Frankfurt am Main, Hamburg, Stuttgart, Köln, Leipzig, Gelsenkirchen, Dortmund (Quelle: https://de.wikipedia.org – letzter Zugriff: 15.04.2022)
[5] „Die Special Olympic World Games sind die weltweit größte inklusive Sportveranstaltung. Tausende Athletinnen und Athleten mit geistiger und mehrfacher Behinderung treten miteinander in 26 Sportarten und 2 Demonstrationssportarten an. Neun Tage fesselnde inspirierende Spiele von Athletinnen und Athleten für Athletinnen und Athleten.
Vom 17. bis 25. Juni 2023 finden die Special Olympics World Games in Berlin statt – und damit erstmals in Deutschland. Wir freuen uns auf ein internationales buntes Fest des Sports – für mehr Anerkennung und gesellschaftlicher Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung“ (Quelle: https://www.berlin2023.org – letzter Zugriff: 15.04.2022)