Lassen Sie uns darüber reden: Was bleibt von dieser Fußballweltmeisterschaft? Was prägt sich ins Gedächtnis ein? Sind es sportliche Überraschungen, wie zum Beispiel im Gruppenspiel Argentinien gegen Saudi Arabien das 1 : 2, worauf wohl niemand gewettet und die Fans umso mehr verblüfft haben? Oder geht dieses Turnier doch eher als das teuerste aller Zeiten in die 92-jährige WM-Historie ein? Das Kurzzeitgedächtnis kann zurzeit noch die Diskussionen im Vorfeld der WM abrufen. Und die hatten wenig mit Fußball zu tun und waren für das Gastgeberland wenig schmeichelhaft: Es ging um Menschenrechte, es ging um die Arbeitsbedingungen der Migranten, und es ging u. a. wegen ihrer zweifelhaften Nachhaltigkeitsstrategie um die unrühmliche Rolle der Fifa, nicht nur jetzt, sondern bereits bei der Vergabe. Sepp Blatter, der 2010 Fifa-Präsident war, hält Presseberichten zufolge, die Vergabeentscheidung für einen Fehler: „Katar war ein Irrtum, die Wahl war schlecht.“ Offensichtlich ging es dem ehemaligen Präsidenten jedoch nicht um das Politische, sondern um die Austragung im Winter.
Womit wir bei einem anderen Teil der Realität sind: Im Sommer ist es viel zu heiß. Deswegen wurde die WM in die Wintermonate verlegt. Dann sind die Temperaturen immer noch hoch, und die extra zur WM errichteten und nach dem Turnier nicht mehr benötigten Stadien müssen heruntergekühlt werden. Anders in unseren Breitengraden: Hätten wir in den Kommunen öffentlich zugänglich und open Air mit großen Public-Viewing-Veranstaltungen ein „Wintermärchen“ zaubern wollen, wären – vorausgesetzt, dass das Publikum, das selbst über einen Boykott der Spiele nachgedacht hatte, überhaupt gekommen wäre - eine Menge Heizstrahler, die Unmengen an Energie verbraucht hätten, erforderlich gewesen. Allerdings, so berichteten die Kolleginnen und Kollegen aus den kommunalen Sportverwaltungen, habe sich ihnen angesichts der Energiekrise und weitergehend mit Blick auf den Umwelt- und Klimaschutz die Frage erst gar nicht gestellt. Auch der Wunsch, dass sich die Stadt oder Gemeinde an der Durchführung eines Public Viewings durch Bereitstellung von Flächen, ggf. Hallen oder Equipments o. Ä. beteilige, sei nicht an die Sportverwaltungen herangetragen worden.
Andererseits mehrten sich in den Wochen vor Beginn die Aufrufe, die WM in Katar, dem Wüstenstaat, der sich immer wieder auch selbst in negative Schlagzeilen bugsiere, zu boykottieren, wobei der Boykott als Kritik dagegen verstanden werden sollte, dass die Gleichberechtigung von Frauen und Männern missachtet, dass die Rechte von ausländischen Arbeiterinnen und Arbeitern im Emirat mit Füßen getreten, dass sie ausgebeutet würden und Misshandlungen ausgesetzt seien, dass Homosexualität verboten sei. Wer die Welt zu einem Sportfest einlade, sagte der Bundesminister der Justiz, Marco Buschmann, in einem Interview sollte eingesehen haben, dass Homosexualität ist keine Krankheit. Dann müssten alle Menschen akzeptiert werden so wie sie seien – egal welches Geschlecht sie hätten und wen sie liebten.
Nirgendwo in der (Fußball-)Welt wurde die Debatte leidenschaftlicher und in der Wahrnehmung anderer schulmeisterlicher geführt als im Westen, als in Deutschland. Unsere Nationalmannschaft wollte ein Zeichen setzen, Haltung bekennen, Werte verteidigen und sich nicht mundtot machen lassen. Die Geste allerdings ist missglückt. Am Ende stand Deutschland als stets besserwissender Lehrmeister mit geringer Überzeugungskraft und geringem Glaubwürdigkeitspotenzial da.
Dabei ist es wichtig, die kritischen Fragen weiterhin anzusprechen und sich intensiv mit ihnen zu beschäftigen. Noch wichtiger ist es, für künftige Entscheidungen und bei der Umsetzung kommender Weltmeisterschaften die richtigen Lehren aus den „Irrtümern“ und Erfahrungen zu ziehen. Das gilt besonders für die Fifa und für den DFB, die beide entgegen der oft geäußerten Skepsis hoffentlich reformfähig sind. Eine davon ist, dass der Sport, so politisch er ist und immer war, nicht für politische Belange missbraucht werden darf. Eine andere ist, hinzusehen, zuzuhören, Menschen und Kulturen mit ihren Traditionen, Erfahrungen und Entwicklungen zu respektieren und zu verstehen und vor allem – das gilt für jeden einzelnen – nicht vorschnell zu urteilen; denn die Zusammenhänge und Hintergründe sind oft komplexer als sie auf den ersten Blick scheinen.
Noch einmal zurück zur Ausgangsfrage? Was bleibt von dieser WM? Die Fußball-Begeisterten, die es sich leisten konnten, nach Katar zu fliegen, werden sicherlich die Gastfreundschaft, die ihnen zuteilwurde und die sie in Interviews immer wieder lobten, im Gedächtnis behalten, und dank Katars als bisher kleinstem Ausrichterland eine WM der kurze Wege. Manchem ist es gelungen, mehrere Spiele an einem Tag in unterschiedlichen Stadien zu besuchen. Das zu wiederholen, wird 2026 nicht einfach sein …
Was sonst noch bleibt? Die Erinnerung an ein packendes Finale, das selbst denjenigen, die beiden Finalisten den WM-Titel gleichermaßen gönnten, den Puls in die Höhe trieb, und das nach mehr als 120 Minuten letztlich erst im Elfmeter-Schießen entschieden wurde. Wer dabei hoffentlich nicht vergessen wird, ist Kylian Mbappé, der französische Nationalspieler, der dreimal traf und doch nach dem Abpfiff enttäuscht und traurig den Platz verlassen musste. Mit seinen gerade 24 Jahren kann er sich – das sei ihm zu gönnen - bei der nächsten WM aber erneut in Erinnerung bringen.
Was ebenso bleibt? Etwas Schönes, etwas sehr Menschliches, dass nämlich Lionel Messi seine überragende Karriere in seinem letzten Turnier mit dem WM-Titel krönen konnte und dass das Fußballland sein Team von Anfang an so bedingungslos, ja tanzend und jubelnd unterstützt hat, dass ganz Argentinien den verdienten Höhepunkt seines Helden genauso euphorisch feierte wie den WM-Titel selbst.